In Zeiten, in denen die etablierten, international aufgestellten Unternehmen immer mehr Marktanteile an neue Konkurrenten zu verlieren drohen, sind neue Ideen gefragt. Doch gerade in der Pharmabranche ist die heute so gefragte Schnelligkeit nicht eins zu eins umsetzbar. Bayer hat hat sich deshalb für einen ganz eigenen Weg entschieden.
Durchschnittlich etwa 12 Jahre dauert es, bis aus einer Idee ein zum Verkauf zugelassenes Medikament wird. Diese Zeitspanne steht dem allgemeinen Verständnis von Innovation diametral entgegen. Schließlich verspricht die Start-up-Industrie schnelle, einfache Lösungen für konkrete Problemstellungen und gerade im Bereich der Digital Health spielen Start-ups heute bereits eine große Rolle. Das Pharmaunternehmen Bayer nimmt diese Entwicklung ernst und hat im Bereich der Pharmaceuticals eine sehr offensive Strategie entwickelt. „Innovation und Digitalisierung sind für Bayer unverzichtbar“, sagt Eugene Borukhovich, Leiter Digital Innovation & Health Incubation bei Bayer. „Sonst gäbe es das Unternehmen nicht schon seit 150 Jahren.“
Rund 4,66 Milliarden Euro hat Bayer 2016 für Forschung und Entwicklung ausgegeben, über 50 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die Investitionen tragen Früchte: Allein beim Europäischen Patentamt hat Bayer im vergangenen Jahr über 800 Patente angemeldet und zählt damit zu den Top 20. Weltweit sind es nach eigenen Angaben rund 50.800 „in Kraft befindliche Patentanmeldungen und Patente“. Und allein für den Forschungsbereich der Pharmaceuticals lagen die Ausgaben bei 2,787 Milliarden Euro. Das sind knapp 60 Prozent der gesamten Forschungsausgaben.
Diese hohe Schaffenskraft ist Ergebnis einer ganz eigenen Digitalisierungs- und Innovationsstrategie. „Der Innovationsprozess hat sich in den vergangenen zehn Jahren maßgeblich verändert“, erläutert Sebastian Guth, Executive Vice President und Chief Marketing Officer bei Bayer. Aus diesem Grund fördert Bayer nicht nur die Innovationsprozesse im eigenen Haus, sondern setzt auch in großem Maße auf Kooperationen mit Unternehmen, Universitäten und Wissenschaftlern außerhalb der Bayer-Familie. „Kooperationen sind ein bedeutender Bestandteil unserer Innovationsstrategie“, so Guth. Wenn man die klinische Entwicklungspipeline mit aktuell zirka 50 Projekten betrachte, werde schnell ersichtlich, dass rund 60 Prozent in Kooperation mit externen Partnern entwickelt werden.
Im vergangenen Jahr erklärte sich Bayer selbst zum „Life-Science-Unternehmen“, zu denen die vier Unternehmensbereiche Pharmaceuticals, Crop Science, Consumer Health und Animal Health gehören. Für diese Bereiche spielen sich Forschung und Innovation im Bayer Lifescience Center, im Bayer LifeScience iHUB und bei den Open Innovation Plattformen ab. Alle drei Innovationsbrutkästen suchen dabei die Zusammenarbeit mit Externen. „Es reicht nicht, die eigenen Ergebnisse und Ideen zu finden“, so Guth, Bayer habe den Horizont erweitert und wolle mit den Besten weltweit arbeiten. Ähnlich sieht es Burokhovich: „Es bewegt sich alles und auch schneller, an den Rändern findet man die Innovationen“.
2009 starteten die Open-Innovation-Plattformen mit dem ersten Crowdsourcing-Programm „Grants4Targets“. Mit „Grants4Targets“ wird die Erforschung von biologischen Zielmolekülen (Targets) durch externe Wissenschaftler und Unternehmen mit einer finanziellen Förderung und der Expertise von Bayer unterstützt. In den vergangenen Jahren kamen neben einigen weiteren Crowdsourcing-Programmen von Bayer auch die Grants4Apps hinzu.
Seit 2013 kooperiert Bayer bei den Grants4Apps mit jungen Unternehmern. Jedes Jahr erhalten fünf Start-ups aus dem Digital Health-Bereich die Möglichkeit, von und in den Räumen von Bayer gefördert zu werden. Neben einer finanziellen Unterstützung in Höhe von 50.000 Euro erhalten die Start-ups für etwa 100 Tage eigene Büros am Berliner Standort von Bayer. In dieser Zeit stehen ihnen unternehmensinterne Mentoren zur Seite, damit die Startups ihre Idee weiter vorantreiben und am Ende auch ein wirkliches Produkt anbieten können. Im Gegenzug dazu erhält Bayer einen Equity-Anteil an den jungen Unternehmen. „Innovationen sind unser Lebensblut und bilden die Basis für unsere Mission „Science For A Better Life“. Grant4Apps ist ein Baustein.
Eugene Borukhovich und Sebastian Guth sind selbst Mentoren und betreuen jeweils eines der vier Start-ups, die in diesem Jahr aus Großbritannien, Südkorea und den USA kommen. „Start-ups helfen, den Anschluss nicht zu verlieren“, so Sebastian Guth hinsichtlich der Beweggründe für das Grant4Apps-Programm. Guth ist in diesem Jahr der Mentor für das Startup „ThinkSono“. Das britische Unternehmen beschäftigt sich mit einer Software, die die Diagnose von tiefen Venenthrombosen (TVT) verbessern soll. Etwa 800.000 Menschen sterben jedes Jahr, weil eine Diagnose nicht rechtzeitig gestellt wurde. Um dies zu ändern, arbeitet ThinkSono an einem tragbaren Ultraschallscanner. Dieser ist mit einer tiefen neuronalen Netzwerktechnologie ausgestattet, sodass bereits direkt beim Patienten Zuhause bzw. bei Allgemeinärzten eine entsprechende Diagnose durchgeführt werden kann. Bayer kann ThinkSono neben der Expertise im Bereich der Produktentwicklung auch dabei behilflich sein, die notwendigen Studien zur Zulassung des Scanners durchzuführen bzw. die oft schwer zu erreichenden Daten zu erheben.
„Wir können viel von den Start-ups lernen“, so Guth. Das Grants4Apps-Programm habe auch bei Bayer intern die Art und Weise, woran und wie gearbeitet werde, geändert. „Start-ups sehen zuallererst, was möglich ist, und fragen sich, wie ihre Idee funktionieren kann. Bei einem großen Unternehmen wie Bayer sieht man immer erst das Risiko, dass mit einer Neuentwicklung oder Änderung verbunden sein könnte.“ Die Start-ups würden Bayer und seine Mitarbeiter dazu anregen, die eigene Denkweise und Herangehensweise an Projekte zu überdenken. „Was aber nicht heißt, dass wir zukünftig das Risiko ausblenden“, erzählt Sebastian Guth. Aber die Bewertung verschiebe sich. Auch im täglichen Umgang miteinander durchbrechen die Start-ups-Teams oft Schranken. Die von flachen Hierarchien geprägten jungen Unternehmer betreten nicht selten während ihrer Grants4Apps-Zeit bei Bayer Büros, ohne anzuklopfen und fangen sofort ein Gespräch an, ganz gleich, ob es sich um einen leitenden Angestellten handelt oder nicht. Bayer Mitarbeiter sehen diesen formloseren Umgang und die Gesprächsinitiative, so Guth, und trauen sich auch öfter mal, selbst einen hohen Vorgesetzten direkt anzusprechen, um Ideen oder Abläufe zu besprechen.
Die Zusammenarbeit mit externen Partnern will Bayer in den kommenden Jahren noch intensivieren. Die demographische Entwicklung bewirke, dass die älter werdenden Menschen „möglichst lange und gesund am gesellschaftlichen und beruflichen Leben teilhaben können“ müssen, erläutert Sebastian Guth. Vermeidbare Krankheiten müssten verhindert, Berufsunfähigkeit, Frühverrentung und Multimorbidität nach Möglichkeit vermieden werden. „Im Zeitalter der Digitalisierung stehen für die Entwicklung neuer Therapien ganz neue Ansätze zur Verfügung. Gleichzeitig hilft uns die Entschlüsselung des menschlichen Genoms dabei, die molekularen Grundlagen von Krankheiten immer besser zu verstehen und mögliche Angriffspunkte für neue Therapien zu identifizieren.“ Die Digitalisierung führt dabei unter anderem im Bereich der Pharmaceuticals zu neuen Methoden in der Forschung und Entwicklung, die einerseits Zeit sparen und die Effizienz erhöhen, und gleichzeitig eröffnen sich für Bayer neue Geschäftsmodelle. „Die Kombination von Biologie und Technologie birgt ein immenses Innovationspotential.“
Sehr viel erwartet sich Bayer zudem von der Big Data Technologie hinsichtlich der Auswertung von Patientendaten und dem Einsatz der so gewonnenen Erkenntnisse für die Entwicklung neuer Medikamente. „Therapien können hierdurch nicht nur individueller, sondern auch holistischer gestaltet werden und bieten damit potenziell auch einen breiteren Nutzen für Patienten“, so Guth. Davon profitieren auch die Startups von Grant4Apps, die bei der Entwicklung ihrer Ideen und Produkte schnell auf Hürden in Sachen Probantenzahlen und Datenschutz stoßen. Und gleichzeitig sollen die Kooperationen mit externen Partnern dabei helfen, beispielsweise bereits zugelassene Wirkstoffe zusätzlich mit digitalen Angeboten auszustatten.